
Training für alle Sinne: Ergotherapie bei kleinen Patienten
von Kirsten Strasser
OPPENHEIM/MAINZ – Das kleine Krankenzimmer. Die leise summenden Beatmungsgeräte. Menschen, die sich mit Masken vorm Gesicht über ihn beugten, wegen der Keimgefahr. All das war Sebastian vertraut.
Darüber hinaus kannte der kleine Junge nichts. Nie konnte seine Mutter mit ihm im Park spazieren gehen, nie durfte er in der „Besucherritze“ im Bett seiner Eltern einschlafen, nie krabbelte er durch Sandkästen oder saß in einer Schaukel. Für all das war das Kind zu krank. Es war mit einer schweren Fehlbildung der Luftröhre zur Welt gekommen, dann kam noch ein geschwächtes Immunsystem hinzu. Statt wie andere Babys Stück für Stück seine Umgebung zu ertasten, erstaunen und zu erfühlen, endete Sebastians Welt an den Gitterstäben seines Klinikbettchens, an das er bis zum Alter von acht Monaten fast ständig gefesselt war.
Wie kann sich ein Kleinkind in solch einer reizarmen Situation dennoch wenigstens einigermaßen gut entwickeln? Genau hier kommt Ulrike Pykal ins Spiel – sie ist die Ergotherapeutin in der Mainzer Kinderklinik und wird regelmäßig auch bei der Behandlung von Patienten auf der Kinderintensivstation hinzugezogen. im Team mit Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten anderer Fachrichtungen. „Ziel der Ergotherapie ist, die Selbstständigkeit der Patienten so weit wie möglich zu erhalten oder wiederherzustellen“, sagt Ulli Pykal. Das können die auf den ersten Blick kleinen, für Gesunde so selbstverständlichen Dinge sein, wie das gezielte Greifen.
Doch wie kann ein Junge wie Sebastian, der sein Bettchen nicht verlassen darf, dazu animiert werden, etwa das Greifen zu üben? „Niemals mit Druck, da geht übers Spielerische“, erklärt die Ergotherapeutin. Und da kein Kind ist wie das andere, ist ihr Job ganz schön herausfordernd: Für jeden Patienten wird die Therapie zugeschnitten, manchmal auch mit kreativen Hilfsmitteln. Das Baby Sebastian etwa liebte es, nach einer dieser beschichteten Rettungsdecken zu greifen, die glitzern und knistern – damit werden viele Sinne angeregt, das Sehen, Hören, Fühlen, erklärt Ulli Pykal. Die Motorik wird geschult, das Gehirn bekommt Beschäftigung.
Das Essen und Füttern – ein sensibles Feld
In den Jahren ihrer Berufstätigkeit – die letzten 22 Jahre in der Kinderklinik – hat sich die erfahrene Ergotherapeutin auf den Komplex „Essen und Füttern“ spezialisiert. Ein sensibles Feld, auch, weil das Füttern eines Kindes bekanntlich der Eltern-Kind-Bindung zuträglich ist. Isst ein Kind nicht gut, setzen sich Mütter und Väter zudem häufig unter Druck – was wiederum, wie bei einer Spirale, zu noch größeren Problemen beim Füttern führen kann. Daher ist Ulli Pykal die Arbeit mit den Eltern sehr wichtig. „Sie werden so schnell wie möglich mit einbezogen.“
Die Ergotherapeutin behandelt schon Frühchen, die noch zu schwach oder unreif zum Trinken und Schlucken sind; mit stimulierenden Griffen, Massagen und Druck regt die 49-Jährige die Reflexe an und sorgt behutsam dafür, dass der Muskeltonus reguliert wird. Manche Kinder kommen mit Fehlbildungen zur Welt, die zum Beispiel das Schlucken unmöglich machen. Andere erleben erst später Beeinträchtigungen bei der Nahrungsaufnahme, durch eine neurologische Störung oder einen Hirntumor. Daher zählen auch viele Patienten der Kinderonkologie zu Ulrike Pykals Patienten. Sie trainiert mit den Kindern das Essen oder prüft, welche Möglichkeiten es gibt, die Nahrungsaufnahme zu erleichtern. Etwa, wenn ein Kind mit Flüssigkeit nicht zurecht kommt, wohl aber mit Brei. Etliche junge Patienten begleitet Ulli Pykal über viele Jahre. Ihre Arbeit beschreibt die Ergotherapeutin als „total bereichernd“, auch für sich selbst. „Wenn ich sehe, dass ein Kind entspannen kann, dass es sich auf die Therapie freut, dann freut das auch mich.“ Manchmal muss Pykal ihren Patienten allerdings auch wehtun – etwa, wenn es gilt, Kinder mit Brandnarben zu mobilisieren. „Das schmerzt dann auch die Therapeutin.“
Was hilft: Dass immer im Team gearbeitet wird, immer Austausch möglich ist. Und, dass Ulli Pykals eineiige Zwillingsschwester ebenfalls in der Kinderklinik arbeitet, als Pflegekraft auf der Intensivstation. „Meine bessere Hälfte im Job bei mir zu haben, das ist das I-Tüpfelchen.“
Und was macht der kleine Sebastian heute? Den durften seine Eltern endlich mit nach Hause nehmen. „Darüber“, weiß Uli Pykal, „sind sie einfach nur glücklich.“ Dass es dem Kleinen schließlich so gut ging, dass dies möglich war, ist auch der Ergotherapie zu verdanken.