OPPENHEIM/MAINZ – Es gibt Babys, die reißen sich irgendwann die Haare aus. Oder sie erbrechen und lächeln dabei – weil sie wissen, dass sich jetzt gleich jemand um sie kümmern wird, sie anfassen, streicheln, trösten wird. Es sind Anzeichen von Hospitalismus, der sich dann einstellen kann, wenn kleine Kinder sehr lange im Krankenhaus liegen müssen.
Vor allem für solche Kinder ist Marie ein Segen. Sie kann am Bettchen stehen bleiben, wenn ein Kleinkind nach Zuwendung hungert, wenn es beschäftigt, berührt, gehalten werden will. Im Gegensatz zu den Ärzten, Pflegern und Schwestern, die viele kleine Patienten zu betreuen haben und oft unter Zeitdruck stehen, hat Marie genau dies: wertvolle Zeit. Die 19-Jährige absolviert auf der Kinderintensivstation in Mainz ein Freiwilliges Soziales Jahr. Seit knapp fünf Monaten gehört sie zum Team, übrigens als erster FSJler überhaupt, und schon jetzt steht fest: „Für die Station ist sie ein riesiger Gewinn“, sagt der Ärztliche Leiter Prof. Dr. Stephan Gehring.
Es war für beide Seiten so etwas wie ein Experiment: Marie Schäfer war nach dem Fachabitur dank eines schulischen Langzeitpraktikums zwar schon mit Erwachsenenpflege vertraut, hatte aber vorher noch nie eine Kinder-, geschweige denn eine Kinderintensivstation betreten. Und diese hatte noch nie einen FSJler gehabt. „Ich bin das Versuchskaninchen“, lacht Marie. Denn nach einem Schnuppertag stand fest: Die Station und die Marie, das passt.
Daran hat sich bis heute nichts geändert, die vergangenen Monate haben die 19-Jährige in ihrem Berufswunsch gestärkt: Sie will Kinderkrankenschwester werden. „Es ist einfach dieses Gefühl, Kindern helfen zu können“, sagt sie. Und sie hat Spaß daran, Neues zu lernen. Wie die medizinischen High-Tech-Geräte funktionieren, fasziniert sie – genauso, wie es den Ärzten und Pflegern gelingt, schwerstkranke Kinder wieder gesund zu machen. „Und ehrlich gesagt hatte ich mir nie vorstellen können, wie viele Krankheiten es überhaupt gibt. Oder dass schon kleine Kinder einen Schlaganfall erleiden können.“
Solche Schicksale mitzuerleben, ist für die 19-Jährige nicht immer einfach. „Da braucht man jemanden zum Reden“, sagt sie. Gut, dass ihre Familie hinter ihr steht, gut auch, dass sie auf der Intensivstation immer jemanden findet, an den sie sich wenden kann. „Hier wird man aufgefangen“, hat sie erfahren. Die junge Frau weiß, dass es gut möglich ist, dass sie auf der Kinderintensivstation miterlebt, wenn ein Kind leidet, wenn ein Kind stirbt. Aber es sei wichtig für sie gewesen, auszuprobieren, ob sie solche krisenhaften Momente im Beruf auszuhalten vermag. „Ich weiß jetzt, ich kann es.“
Eines der Kinder, um die sich Marie derzeit besonders kümmert, ist Noah, ein kleiner Langzeitpatient. Ruhig spricht die 19-Jährige mit dem Jungen, streichelt ihn sanft, hält ihm ein Spielzeug hin – bis sie dem Kleinen ein Lächeln entlockt. Viele Eltern, erzählt Marie, wüssten ihren Einsatz zu schätzen. „Sie freuen sich, wenn sie wissen, dass ich bei ihrem Kind bin, wenn sie mal nicht da sein können“, sagt sie. Und dann gibt es auch noch die Kinder, die keinen oder nur selten Besuch bekommen. Die nimmt Marie, wenn möglich, in den Arm, kuschelt mit ihnen. „Damit auch sie erfahren, wie es ist, Nähe zu spüren.“
Für den Behandlungs- und Heilungsprozess bei schwerstkranken kleinen Kindern ist diese Art der Zuwendung „essenziell“, sagt Professor Gehring. Pflegerische Maßnahmen darf Marie, da sie (noch) keine entsprechende Ausbildung besitzt, nicht durchführen. „Da gibt es klare Regelungen“, betont Gehring. Doch durch die Zeit und Zuneigung, die die FSJlerin den Kindern schenkt, trage sie sehr zur Gesundung der kleinen Patienten bei. Gerade in Zeiten enormen Pflegenotstands sei diese Unterstützung für die Station überaus wertvoll. Zumal sich Marie Schäfer als Naturtalent entpuppt hat. „So wie sie hier ihre Arbeit lebt, ist das einfach traumhaft“, schwärmt Oberarzt Ralf Huth. „Sie kann sehr gut eine Bindung zu den Kindern aufbauen.“
Und nicht nur zu diesen – auch im Team fühlt sich Marie voll integriert und ernst genommen. Sie wird eingebunden, darf überall hineinschnuppern. „Man hat mir sogar in Aussicht gestellt, dass ich mal bei einem Kaiserschnitt dabei sein darf“, freut sie sich. Gut, dass die 19-Jährige Blut sehen kann – freilich auch eine Voraussetzung für eine angehende Kinderkrankenschwester, die ihren Weg machen wird.